Die Leinwand
des Lebens
Die eigenen Mauern lieben lernen und mit Farben anstreichen
Portrait: Illustratorin und Wandbild-Künstlerin in Sri Lanka
Marcelle ist die erste Person, die ich bei meiner Ankunft in Sri Lanka in der gemeinsamen Unterkunft kennenlerne. Sie stellt sich als Marce vor und macht hier zusammen mit ihrer guten Freundin auf unbestimmte Zeit Workaway – einen Auslandsaufenthalt organisiert über eine gleichnamige Online-Plattform, die es Menschen ermöglicht, für längere Zeit kostengünstig auf Reisen zu gehen. Ein paar Stunden tägliche Arbeit werden gegen freie Kost und Logis eingetauscht.
Marce trägt eine auffallende Brille (von denen sie mehrere besitzt), knallroten Lippenstift, große Reif-Ohrringe sowie eine Kappe. Sie wirkt nicht nur in ihrer Erscheinung wie ein lässiger und farbenfroher Vogel, auch ihre Persönlichkeit ist facettenreich, wie sich mit der Zeit herausstellt. Sobald andere Tourist:innen zusammenkommen und durcheinander reden, ist sie es, die sich entspannt zurücklehnt und das wilde Treiben beobachtet. Sie sagt nicht viel, gibt nicht ihren Senf zu allem und scheint auch nicht das Bedürfnis zu haben, ihre Meinung ständig kund tun zu müssen. Da stille Wasser bekanntlich tief gründen, weckt sie mein Interesse. Ich erfahre, dass sie in der Unterkunft die Wand des anliegenden Cafés bemalen wird. Als ich am nächsten Tag den kurzen Weg zum Café hinunterlaufe, sehe ich Marce bereits vor der Wand sitzen: Sie singt zur Musik, die aus einem kleinen Lautsprecher tönt und wippt mit ihrem Kopf zum Takt. Zwischendurch tunkt sie ihren Pinsel in eine Farbdose. Marce bemerkt nicht, dass ich schon hinter ihr stehe. Als sie mich erblickt, lächelt sie und reguliert die Musik auf ihrem Tablet runter. Sie ist dabei die Illustration eines Raben an der Wand, dessen Konturen bislang noch aus weißer Kreide bestehen, mit schwarzer Farbe zu bemalen. Farbkleckse sind in ihrem Gesicht sowie auf ihrer Kleidung verteilt. Im Laufe des Gesprächs sollen es noch mehr werden. Immer wieder nimmt sie ein paar Schritte zurück, neigt ihren Kopf schräg und begutachtet ihr Bild.
„[...] Wir haben dauernd zusammen gemalt und Dinge bemalt: Häuser, Figuren, Leinwände, Dekorationen etc. Also waren schon immer sehr viel kreative Menschen um mich herum. Somit bin ich in dieser kreativen Welt aufgewachsen.“
Südafrika: Kreative Einflüsse
Marcelle Dominique Versteeg (29) ist in Johannesburg, in Südafrika geboren. In den ersten Jahren ihrer Kindheit zieht ihre Familie oft um – einen beständigen Wohnsitz gibt es nicht. Ihr letzter Wohnort ist Jeffreys Bay, Eastern Cape. Das Zeichnen und Malen fängt sie in frühen Jahren an. „Ich habe schon immer gemalt und mich gerne kreativ betätigt“, erzählt Marce. Ihre Mutter ist Innenarchitektin und ihre Tante Künstlerin. „Auch mein Vater hat mit seinen Händen immer etwas gebaut und hergestellt. Wir haben dauernd zusammen gemalt und Dinge bemalt: Häuser, Figuren, Leinwände, Dekorationen etc. Also waren stets sehr viel kreative Menschen um mich herum. Somit bin ich in dieser kreativen Welt aufgewachsen“, schildert Marce ihr Heranwachsen. Ziemlich schnell ist ihr klar, dass sie Grafikdesign studieren will, um Illustratorin zu werden. Ihr Studiengang begeistert sie, doch Südafrika langweilt sie mit der Zeit. Der Ruf in die weite Welt und diese zu entdecken wird parallel zur wachsenden Eintönigkeit in der Heimat lauter. Das letzte Mal, dass sie in ihrem Heimatland war, ist jetzt vier Jahren her. Ihre Mutter und Schwester sind noch in Südafrika, ihr Vater lebt in Mosambik. „Ich vermisse meine Eltern, aber es gab in Südafrika nicht genug für mich, um dort zu bleiben. Diesen Lifestyle den ich jetzt führe, möchte ich nicht mehr hergeben. Ich bin jetzt noch nicht bereit zurückzukehren“, erläutert Marce auf die Frage, ob sie Heimweh empfindet. Sie zupft immer wieder an ihren zwei schwarzen geflochtenen Zöpfen, rückt ihre Brille zurecht und blickt auf ihre Wandillustration.
Für eine längere Zeit im Ausland zu leben und zu reisen, scheint für viele aus finanziellen Gründen nicht machbar. Doch durch Workaway kann Marce ihren Traum realisieren. „Ich bin nicht reich aufgewachsen, meine Eltern waren getrennt und wir hatten nicht viel – es gab keine richtige Familienstruktur“, schildert Marce und ist dankbar, dass ihr diese Art von Tätigkeit das Langzeitreisen in der Ferne ermöglicht. Sie lernt folglich früh wie es ist, keine feste Heimatbasis zu haben. Der häufige Unterkunftswechsel auf Reisen fällt ihr somit leicht. Ihr gefällt es sogar, die Zimmer in den unterschiedlichen Unterkünften immer wieder aufs Neue einzurichten.